Die Erfindung des Geldes

Von Ursula Kampmann

Irgendwann um die Mitte des 7. Jahrhunderts, ein bisschen früher oder ein bisschen später, begannen die Bewohner Kleinasiens im Gebiet von Lydien und Ionien damit, das herzustellen, was wir heute als Münzen bezeichnen. Das 7. Jahrhundert war eine Zeit des Umbruchs, die man wohl am besten mit der Industrialisierung Europas im 19. Jahrhundert vergleichen könnte oder mit dem, was im Moment durch die wirtschaftliche Nutzung des Computers passiert. In diesem 7. Jahrhundert veränderte sich die griechische Welt völlig. Eine von allen erlernbare Schrift wurde eingeführt, unzählige Kolonien rund ums Mittelmeer gegründet, zahlreiche neue technische Erfindungen in Gebrauch genommen, die Philosophie entstand und damit das Nachdenken über den Menschen selbst, seine Umwelt, die Natur der Dinge, kurz die Naturwissenschaft. Aber keine von all diesen Erfindungen der Griechen war so folgenreich wie die Einführung des Geldes in unserem heutigen Sinn.


Karte von der kleinasiatischen Küste, wo die ersten Münzen entstanden.

Dabei waren die ersten Klümpchen aus Elektron, die einen Stempel trugen, der ein genormtes Gewicht versprach, eigentlich gar nicht so originell. Mit haltbarem und damit wertbeständigem Metall in genormten Barren hatten schon Generationen von Händlern davor Handel getrieben. Und es gehörte für einen reichen Herrn in homerischer Zeit dazu, in seiner Schatzkammer – wie der Dichter sagt – »Gold und Kupfer und auch mühselig nur schmiedbares Eisen« aufzubewahren, um es in Notzeiten gegen Lebensmittel eintauschen zu können. Das genormte und zum Handel benutzbare Metallobjekt gab es also schon, als im 7. Jahrhundert die ersten Elektronklümpchen mit Punzen markiert wurden. Sie waren zunächst eigentlich nichts anderes als genormte Handelsware, die durch ihre Markierung das Wiegen der einzelnen Stücke unnötig machten.

  
Elektronstater, Mitte des 7. Jahrhunderts. Geriffelte Oberfläche mit länglicher Erhebung (Delphin?). Rv. Zwei quadratische, dazwischen ein längliches Incusum. 14,17 g. Unpubliziertes Unikum (linke Abb.: Vorderseite/rechte Abb.: Rückseite)

Aber was war denn dann die griechische Erfindung? Weshalb erlangte die Münze als Tauschobjekt eine so grosse Bedeutung? Warum zahlen wir heute mit ihnen und nicht zum Beispiel mit Ösenringen, die als genormtes Handelsobjekt im europäischen Raum schon in der Bronzezeit (ca. 1800–900) verwendet wurden? Nun die Griechen verwendeten die Münzen nicht nur dazu, Ware einzutauschen, sondern sie begannen damit, jeden Gegenstand und jeden Wert zu taxieren und die neuen Münzen als Werteinheit zu verwenden


  
Elektron-Drittelstater, Mitte des 7. Jahrhunderts. Vier kleine Linienquadrate, jedes mit einem Kreuzornament gefüllt. Rv. Zwei unregelmäßig vertiefte Quadrata incusa nebeneinander gesetzt. 4,61 g.

Schon vor Einführung der Münze hatten die geschäftstüchtigen Griechen gerne Werte aneinander gemessen. Homer berichtet in einer Episode der Ilias, wie ein Troianer und ein Grieche feststellen, daß ihre Väter Freunde waren. Um nun nicht aus Versehen gegeneinander zu kämpfen, tauschen sie ihre Schilde. Homer hatte allerdings den Eindruck, daß dabei einer von beiden übertölpelt wurde, denn der Wert beider Schilde war unterschiedlich: »Hundert Rinder der eine, neun Rinder dagegen der andere.« Mit Rindern zu rechnen, mag praktisch sein, wenn man es mit grossen Werten zu tun hat, mit kostbarer Rüstung oder wertvollem Schmuck. Was aber ist – wollte man mit Rindern rechnen – die Arbeit des Bäckers wert, der aus dem vom Bauern gelieferten Getreide ein Brot gebacken hat? Wie muss man die Leistung eines Töpfers einschätzen, die er erbringt, wenn er ein Gefäss herstellt? Welchen Teil vom Rind soll man dem Lastenträger geben, wenn er einem die schweren Packen vom Schiff in den Laden trägt


  
Elektron-Drittelstater, Mitte des 7. Jahrhunderts. Löwenkopf von vorne. Rv. Zwei unregelmäßig vertiefte, mit Linien verzierte Quadrata incusa nebeneinander gesetzt. 4,70 g.

Für all diese Bewertungen war mit der neuen Münze eine Einheit geschaffen, in der man rechnen konnte. Es war möglich, den Stater aufzuteilen in Sechstel, Zwölftel, Vierundzwanzigstel, ja die kleinsten Münzen entsprechen dem Wert von einem Einhundertsechsundfünzigstel Stater. Auf einmal war jede Leistung berechenbar und zahlbar. Und hier liegt nun die eigentliche Genialität der Griechen: Aus dem neuen Handelsmedium Geld machten sie eine Masseinheit für Wert. Wenn wir heute nicht mehr mit Münzen, sondern mit Kreditkarten zahlen und kein Bargeld mehr nötig ist für Miete, Kleidung und sonstige Einkäufe, dann führen wir die griechische Abstraktion nur in letzter Konsequenz zu Ende. Wie die Griechen haben wir das sächliche Symbol »Münze« oder »Geldschein« abstrahiert. Der bargeldlose Geldverkehr ist der Endpunkt eines Gedankens, den die Griechen in der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. zu denken begannen.

  

Elektron-Sechstelstater, Mitte des 7. Jahrhunderts. Löwenkopf n. r. Rv. Zwei Quadrata incusa. 2,29 g. Unicum.

  

Elektron-Zwölftelstater, Mitte des 7. Jahrhunderts. Löwenkopf n. r. Rv. Quadratum incusum. 1,22 g.

Die Erfindung des Geldes hatte für die weitere Geschichte und vor allem für die soziale und politische Entwicklung der einzelnen Staatswesen eine grosse Bedeutung. Zum ersten Mal konnte die Arbeitsleistung jedes einzelnen Berufsstandes genau gemessen und bezahlt werden. Es stand nun fest, wieviel Geld ein Söldner für zwei Wochen Kriegsdienst zu bekommen hatte, ein Arzt für die Heilung eines Patienten, ein Maler für die Erstellung eines Gemäldes. Arbeit und Lohn machten ein Leben berechenbar und möglich ohne die bisher übliche Selbstversorgung mit einem eigenen Bauernhof oder ohne einen schützenden Mäzen. Dies war die Grundlage dafür, dass in den griechischen Städten eine breite Schicht von erfolgreichen und wohlhabenden Handwerkern entstand, letztendlich eine der Ursachen für die Entstehung der Demokratie.

  

Elektron-Vierundzwanzigstelstater, Mitte des 7. Jahrhunderts. Löwenkopf n. r. Rv. Quadratum incusum. 0,60 g.

  

Elektron-Achtundvierzigstelstater, Mitte des 7. Jahrhunderts. Löwenpranke von oben gesehen Rv. Skorpion in Quadratum incusum. 0,26 g.

Doch die Tatsache, dass Arbeit »wertvoll« sein kann, impliziert zugleich den Umstand, daß es auch »wertlose« Arbeit gibt, Arbeit, für die niemand bereit ist, etwas zu zahlen. Die Möglichkeit, die Leistung eines Menschen exakt zu bewerten, macht denjenigen, der nicht den Anforderungen seiner Gesellschaft entspricht, automatisch zur Randgestalt. Ungleichheiten wachsen und werden festgeschrieben. Schon die Griechen hatten erkannt, daß die Einführung des Geldes nicht nur Gutes gebracht hatte. So verbanden sie einen der mythischen »Väter« des Geldes, den Phryger Midas, mit einer doppeldeutigen Geschichte:

Midas hatte den betrunkenen Silen gefunden, wohl bewirtet und zu Dionysos zurückgeschickt. Zum Dank gewährt der Gott dem phrygischen König die Erfüllung eines Wunsches. Midas bittet darum, daß alles, was er berührt, zu Gold werde. Dionysos erfüllt ihm dies. Midas berührt einen Strauch, einen Stein, einen Erdklumpen, alles wird zu Gold. Midas freut sich über seinen Reichtum, macht große Pläne, bis er sich das erste Mal zum Essen niedersetzt. Auch das Brot, das er bricht, die Frucht, die er essen will, wird zu Gold. So muss er den Gott bitten, den Wunsch, der zum Fluch geworden ist, wieder von ihm zu nehmen. 

  

Elektron-Sechsundneunzigstelstater, Mitte des 7. Jahrhunderts. Greifenkopf (?) n. l. Rv. Quadratum incusum. 0,14 g.

Schwingt in dieser griechischen Sage nicht ein klein wenig die Erfahrung mit, dass die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht durch Gold oder Geld zu ersetzen sind?